Leben mit meiner Freundin der Depression
Aus dem Leben gerissen - Und zurückgefunden!
Ich war froh, mit knapp 17 Jahren aus meinem Elternhaus auszuziehen. Nach einer strengen Erziehung, in der ich zu funktionieren hatte und Prügel nicht selten war, begann ich meine Ausbildung in einer Kleinstadt, die gut 130 km von meinen Eltern entfernt war. Endlich fand die persönliche Entwicklung statt, die fast 17 Jahre lang unterdrückt wurde. Nicht mehr fragen zu müssen, ob ich noch raus darf. Keine Rechenschaft ablegen müssen. Ich konnte mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen leben. Und ich spürte ein ganz neues Gefühl. Das Gefühl von Freiheit und damit ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
So baute ich mir in den nächsten Jahren mein neues Leben auf. Ein Leben, wie ich es mir wünschte, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte. Durch meine Ausbildung zum Restaurantfachmann wuchs meine Selbstsicherheit. Schnell bemerkte ich, dass ich mir mehr zutrauen konnte, als es meine Eltern jemals taten. Nach meinem Abschluss ging ich nach Süddeutschland und feilte in verschiedenen Top-Hotels an meiner Karriere, bis hin zum Restaurantmanager. Ich liebte meinen Beruf und war stolz darauf, was ich aus meinem Leben gemacht hatte. Bis zum Jahr 2001.
Es war mittlerweile Oktober, ganz schön nasskalt und ungemütlich. Wir, meine damalige Lebensgefährtin und ich, gingen an diesem Wochenende mit zwei weiteren Pärchen im Welt-Wald im Harz spazieren. Wir waren glücklich, unbekümmert und hatten alles, was man sich in unserem Alter nur wünschen konnte. Im Sommer sind wir in eine riesige Fachwerkwohnung im Dachgeschoss gezogen. Jeder hatte sein eigenes Arbeitszimmer und allein das Wohnzimmer war fast so groß wie unsere alte Wohnung. Meine Freundin bestand ihr Diplom und fing ihren ersten Job in einer berufsbildenden Schule an. Und ich hatte erst die letzte Beförderung in meinem neuen Berufsfeld im Außendienst gefeiert. Kurzum, es lief bestens für uns und in unseren Köpfen planten wir schon am Familiennachwuchs.
Wir waren schon lange unterwegs in diesem Wald, als ich meinen offenen Schnürsenkel bemerkte. Ich hockte mich hin, um eine Schleife in das Lederband zu schnüren. Doch ich konnte meine linke Hand nicht bewegen. Schlimmer noch, ich habe sie nicht mehr gespürt, sie war tot. Also ließ ich meine Freundin meinen Schuh zu machen und erzählte ihr, was mit meiner Hand war. Etwas irritiert darüber sind wir erstmal nach Hause gefahren. Und ich war der Meinung, was von allein kommt, geht auch wieder von allein. Heute bin ich dankbar, dass ich durch meine Lebensgefährtin zum Arztbesuch genötigt wurde.
Meine gelähmte Hand war nur ein erstes Anzeichen für Das, was da in meiner Halswirbelsäule wuchs. Ein riesiger Tumor, der schon das Rückenmark deformierte.
Es ist der 9. November 2001, als ich durch die lebensnotwendige Operation am Rückenmark plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Ich wachte aus der Narkose auf und erschrak. Meine linke Körperhälfte und beide Beine waren gelähmt. Mein Leben drehte sich mit einem Schlag um 180 Grad. Von einem Moment auf den anderen war ich auf einmal ein Pflegefall und auf fremde Hilfe angewiesen. Alles, was ich mir in den letzten 14 Jahren aufgebaut und hart erarbeitet hatte, löste sich auf. All meine Träume und Wünsche platzten wie eine Seifenblase, während ich unter Narkose schlief und nichts mitbekam. Das konnte ich nie akzeptieren. Ich wollte wieder laufen können, meinem Sport nachgehen und vor allem wollte ich mein Leben zurück, wie ich es kannte. Und dafür war ich zu allem bereit.
Die ersten Jahre war ich noch total motiviert. Ich machte kleine Fortschritte und konnte sogar eine Ausbildung zum Staatl. gepr. Betriebswirt abschließen. Doch noch während der Umschulung verschlechterte sich mein gesundheitlicher Zustand rasant. Die Bewegungsfähigkeit verringerte sich durch neue Lähmungen und zusätzlich entstanden so stark reißende Nervenschmerzen, wie ich sie nicht kannte, die mich fast wahnsinnig machten. Das zermürbte mich und ich verlor mit der Zeit all meine Hoffnungen.
Meine Lähmungen und Schmerzen, wie auch die Erkenntnis, dass ich nicht mehr gebraucht wurde, nicht mehr arbeiten konnte und letztendlich auf fremde Hilfe für die kleinsten, alltäglichen Dinge des Lebens angewiesen war, waren Ursache, wie auch Auslöser meiner Depressionen. Über Jahre hinweg rutschte ich in die dunkelsten Tiefen meiner Psyche. Und ich wusste nicht einmal, was das war. Ich wusste nicht, dass das Depressionen waren. Erst später stellte sich heraus, dass ich typische Entwicklungs- und Schocktraumen durchlebte.
Was mir allerdings völlig den Boden unter den Füßen wegriss, war der Suizid meines kleinen Bruders. Wir hatten eine sehr enge Bindung. Wir sahen uns regelmäßig und ich konnte mich mit meinem 2 Jahre jüngeren Bruder einfach über alles unterhalten. Uns waren die Meinung und Ansicht des anderen immer wichtig. Wichtiger als die unserer Eltern.
Ich weiß noch, dass wir uns verabredet hatten, um für meine neue, barrierefreie Wohnung passende Möbel zu kaufen. Einen Tag vorher stand plötzlich die Polizei vor meiner Tür und kam mit der Nachricht, dass mein Bruder tot sei. Ich hatte mich nie so ohnmächtig und hilflos gefühlt, wie in diesem Moment. Von diesem Ereignis hatte ich mich Jahre nicht erholt.
Die Tage wurden dunkler für mich und eine nicht beschreibbare Schwere lag über mir. Heute nenne ich diese Schwere den “dunklen und mächtigen Mantel der Depression”. Ich kauerte über Wochen, Monate, ja - über Jahre in Embryonenstellung auf meinem Sofa und war durch meine seelischen und körperlichen Schmerzen so gut wie handlungsunfähig.
Ich wollte nur eins. Dass dieses Gefühl einfach aufhört. Diese Dunkelheit, diese Hoffnungslosigkeit und diese unendliche Traurigkeit. Ein Gefühl, mental und physisch gelähmt zu sein. Meine Gedankenspiralen zogen mich immer weiter in die Tiefe. Und sie fraßen mich auf. Ich konnte dieses Leben nicht mehr ertragen. Ich wünschte mir, dass ich nur noch schlafen würde. Schlafen, und nicht mehr aufwachen wollen. Bis hin zu dem Wunsch, dass ich Tod sein will.
Aus diesem Wunsch heraus entstand die Idee, meinen Schmerzen selbst ein Ende zu setzen. Die Gassi-Runden mit meinem Hund führten teilweise an der ICE-Trasse entlang. Irgendwie zogen mich die Gleise magisch an. Ich bin immer öfter ganz bewusst, direkt an das Gleisbett gerollt. Vielleicht ein knapper Meter trennte mich noch von den Schienen. Ich wartete jedes Mal, bis ein ICE vorbei raste. Wie in Trance genoss ich das Geräusch des vorbeifahrenden Zuges und den Luftstrom, der mein Gesicht berührte. Ich bräuchte mich nur auf die Gleise werfen, wenn der nächste Zug kommt. Doch den Mut dazu brachte ich nie auf. Ich hatte viel zu viel Angst davor, zu überleben. Und diese Angst war nicht unbegründet. Immer wieder hatte ich mir vorgestellt, dass ich ein Bein oder einen Arm verlieren könnte. Noch schlimmer war die Vorstellung, dass mich der Zug so erwischt, dass ich nicht nur ein Körperteil verliere, sondern so lädiert wäre, dass ich bewegungsunfähig als Pflegefall für den Rest meines Lebens in irgendeinem Heim dahinvegetieren müsste.
Nachdem ich Ende 2015 mit einer letzten Zigarette im Mund, auf den Gleisen gelegen hatte und nur meines Hundes wegen wieder in meinen Rollstuhl zurückgerobbt bin, ließ ich mich endlich in eine psychiatrische Klinik einweisen, um mir helfen zu lassen. In die Klinik für “Mentale Gesundheit”.
Und schon die Anfahrt war schwer für mich. Nicht nur, dass ich mich wahnsinnig dafür geschämt hatte, dass ich in so eine Klinik musste. Ich bildete mir auf dem Weg dorthin sogar ein, dass jede Person, die mich gesehen hatte, sofort wusste, wohin ich fahre. Dass die Leute auf den Straßen des kleinen Ortes, in dem diese Klinik steht, über mich sprachen, mich anglotzten oder mich sogar auslachten. Und ich wusste auch sofort, was diese Leute dachten; “Da kommt der nächste Psycho für die Ballerburg”. Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt und zurück nach Hause gefahren. Letztendlich habe ich es doch bis zum Haupteingang der Klinik geschafft. Und von da an hatte ich sehr viel Zeit, um meine Depressionen, meine Ängste und Traumen, ja, um mein ganzes Leben aufzuarbeiten. Aber vor allem habe ich gelernt, meine Depression anzunehmen und mit ihr zu leben.
Tagesstruktur
Morgens um sieben wurde ich von einer Schwester oder einem Pfleger geweckt und hatte dann bis halb acht Zeit, um zum Duschen oder Waschen ins Bad zu gehen, bevor ich zum Frühstücken ging. Damit wären die ersten Verpflichtungen schon erfüllt. Es ist als depressiv Erkrankter nämlich gar nicht so einfach, überhaupt erst mal aus dem Bett zu kommen. Und waschen? Hm, werde ich wohl müssen, wenn ich nicht unangenehm auffallen will. Und das Bett ist ja auch schnell gemacht. Allein der Ablauf bis zum Frühstück ist mir die ersten Tage verdammt schwergefallen. Aber mit der Zeit hatte ich gemerkt, wie routiniert dies ablief. Auch zu den Therapien, jedes Mal musste ich mich überwinden und in den Hintern treten, damit ich überhaupt los ging. Ich fühlte mich ständig müde und war einfach antriebslos.
Mit der Zeit wurden die Termine enger aneinandergelegt, aber immer noch mit genügend Zeit zwischendurch, um sich zu erholen oder später, als ich an den Tagesablauf gewöhnt war, mir einen Tee oder Kaffee zu holen, den ich in meiner freien Zeit genießen konnte. Und das Gefühl der Zufriedenheit, dass ich wieder etwas geschafft hatte, wurde stetig größer. Und sieh da, es kostete mich teilweise nicht mal mehr Überwindung zu den Therapien zu gehen, ich freute mich mittlerweile auf viele.
So lernt dein Gehirn, das es gut ist, dass du deinen Tag strukturierst und regelmäßig etwas um die Ohren hast, sprich, zu tun hast. Und mit dieser Erkenntnis bin ich nach Hause gekommen. Ich wusste jetzt, dass Struktur und Sport 70% ausmachen und Medikamente gegen Depressionen nur 30%. Das heißt aber auch, wenn ich mich nur faul ausruhe, dass die Tabletten allein nicht reichen würden, um mir die Depression vom Leib zu halten.
Schon während des Therapieaufenthaltes fing ich an, meine Gedanken auf Papier zu schreiben. Sämtliche Themen und Situationen meines Lebens, von denen ich glaubte, dass sie zu den Depressionen beigetragen haben. Ich wollte verstehen. Ich wollte diese ganze Thematik greifen können. Und irgendwie war das Schreiben eine zusätzliche Selbsttherapie, um verarbeiten zu können. Daraus entstand später mein veröffentlichtes Buch. “Leben mit meiner Freundin der Depression”.
Recover
Entschlossen, mich nicht mehr von der Krankheit definieren zu lassen, nutze ich heute meine Erfahrungen, um anderen Mut zu machen. Als Initiator mehrerer Selbsthilfegruppen, darunter "Plötzlich gelähmt! – Gemeinsam wieder vorwärts" und "Depresso – Depressionen & Ängste", biete ich eine unterstützende Gemeinschaft für Betroffene. Ich ermutige Menschen, offen über ihre Herausforderungen zu sprechen und stigmatisierende Grenzen zu durchbrechen.
2022 begann ich Lesungen und Vorträge zu halten, um gegen die Stigmatisierung von Depressionen anzugehen und die Gesellschaft aufzuklären. Die große Jahresabschlusslesung 2023 fand während der “Woche der Seelischen Gesundheit”, zusammen mit der Autorin Nora Hille, im “DasKult”-Theater in Braunschweig statt.
Ja, mein Weg zur Genesung war holprig, aber mit Zeit, harter Arbeit und Unterstützung von Freunden, Familienmitgliedern und der Selbsthilfegruppenarbeit habe ich meine Lebensfreude wiederentdeckt. Mit meinen Ehrenämtern gestalte ich positives. Das gibt mir nicht nur ein gutes Gefühl, ich bleibe so auch viel stabiler und kann meine Depressionen und Ängste besser händeln und steuern.
Ich möchte ein lebendiges Beispiel dafür sein, wie Entschlossenheit, Hilfe von anderen und die Bereitschaft, sich der Herausforderung zu stellen, dazu führen können, dass selbst in den dunkelsten Momenten das Licht des Glücks und der Hoffnung wieder aufleuchtet. Mit meinen Lesungen, mit meiner persönlichen Geschichte, möchte ich Menschen inspirieren und ermutigen, ihren eigenen Weg zur Genesung zu finden. Und das Leben trotz der Widrigkeiten anzunehmen.
Heute lebe ich mit meiner Partnerin in Braunschweig und bin ich glücklich und zufrieden darüber, dass ich lebe und dieses Leben aktiv nach meinen Vorstellungen und Wünschen wieder gestalten kann. Und das wünsche ich allen Menschen genauso, dass sie in ihr Leben finden, welches wieder lebenswert ist.
Stephan Falkenstein